Der zunehmende Fachkräftemangel, der anhaltende „War for Talents“ und nicht zuletzt die Corona-Krise stellt Unternehmen und Recruiting-Abteilungen vor enorme Herausforderungen. Im Zuge der Digitalisierung ist auch die Personalbeschaffung gefordert, neue Wege zu gehen, sich auf die unterschiedlichen Bewerberzielgruppen einzustellen und gezielte Online-Strategien zu erarbeiten. Maria Ugarova (26) ist seit 2017 bei der WBS GRUPPE im Recruiting tätig. Wir wollten von ihr wissen, wie sich die disruptiven Veränderungen konkret auf ihren Arbeitsbereich ausgewirkt haben und was sie unternimmt, um damit Schritt zu halten.
Maria, du bist in einem Unternehmen beschäftigt, das seit vielen Jahren auf digitalisierte Prozesse setzt. Deshalb ist das Buzzword Recruiting 4.0 für dich eigentlich ein alter Hut, oder?

Also, die Digitalisierung macht sich natürlich auch im Recruiting bemerkbar. HR-Abteilungen hatten früher ein eher angestaubtes Image. Außenstehende denken noch heute, dass wir mit uralten, dicken Aktenordnern hantieren. Und dass Personalerinnen und Personaler mindestens ebenso verstaubt sind wie diese Ordner. Aber natürlich, zum Glück, läuft das inzwischen ganz anders, jedenfalls bei der WBS GRUPPE. Selbstverständlich gibt es auch hier zwar weiterhin Papierdokumente, wie z. B. Arbeitsverträge, die wir noch im Original aufbewahren, aber der Großteil unserer Arbeit findet digital statt.
Beispielsweise nehmen wir nur noch Online-Bewerbungen entgegen und arbeiten mit einem System, das es uns erlaubt, unsere Stellen auch online zu verwalten. Abstimmungen mit den Bewerberinnen und Bewerbern und den Fachabteilungen, die Vertragserstellung, der Versand zusätzlicher Unterlagen, selbst der Versand unseres Willkommensgeschenks an neue Kolleginnen und Kollegen – es ist inzwischen alles komplett digitalisiert. Die meisten Bewerbungsgespräche finden bei uns schon lange digital statt, zumindest im ersten Schritt. Später kommt es dann auch vor Ort zu Gesprächen oder sie finden hybrid statt. Bei uns im Recruiting ist das einer der Bestandteile des Vorab-Checks für die digitale Affinität einer Kandidatin oder eines Kandidaten. In einem Unternehmen, das sich als digitaler Vorreiter positioniert, müssen wir die Affinität für digitale Kommunikationsformen für eine funktionierende Zusammenarbeit und ein Matching zu uns als Unternehmen einfach voraussetzen.
Was genau macht ihr im Recruiting seit Corona anders?
Wie funktionieren Bewerbungsgespräche oder das Onboarding?
Ich kann nicht leugnen, dass wir definitiv beeinflusst von der Situation sind. Gott sei Dank sind aber Formate wie Skype-Interviews, Online-Team-Kennenlernen, Video-Bewerbungen und digitale Unterschriften für uns kein Novum, sondern schon lange Normalität. Zum ersten Kennenlernen, für den ersten Austausch, reicht ein Skype-Interview vollkommen aus. Hier kann bereits eine gewisse Nähe und gegenseitige Einschätzung stattfinden, ohne dass Zeit, Geld und Umweltbelastungen durch Anreisen entstehen. Das Kennenlernen des Teams bzw. der direkten Führungskraft findet meistens vor Ort statt. Aber bei Positionen, in denen die Kolleginnen und Kollegen sowieso ausschließlich aus dem Homeoffice heraus agieren oder die Führungskraft an einem anderen Ort als dem eigenen tätig ist, kann auch dieser Teil des Bewerbungsprozesses virtuell stattfinden.
Welche Herausforderungen gibt es beim virtuellen Kennenlernen?
Durch die räumliche Trennung ist es nun umso wichtiger geworden, eine vertrauensvolle und angenehme Atmosphäre zu schaffen. Sitzen mir nette, entspannte Leute gegenüber, vielleicht bei Tee und Gebäck? Oder blicken mich angestrengte Menschen an, die mich mit Fragen zu meinem Lebenslauf bombardieren? Der atmosphärische Aspekt war zwar schon immer wichtig, aber jetzt erfordert er noch einmal zusätzliches Mitdenken und Mühe. Im Recruiting 4.0 kann man sich nicht einfach darauf verlassen, dass man auf dem Weg zur Kaffeemaschine nett plaudert, nebenbei die Räumlichkeiten zeigt oder ungezwungen auf Kolleginnen und Kollegen trifft. Der Prozess an sich ändert sich durch Corona bei uns nicht unbedingt, nur ist es nun viel wichtiger geworden, in welcher Atmosphäre er stattfindet. Und es wird eine viel engere Absprache mit allen Beteiligten erforderlich.
Wie erlebst du die aktuelle Situation in deinem Arbeitsalltag im Recruiting?
Mein persönlicher Arbeitsalltag hat sich seit der ersten heißen Corona-Phase eigentlich kaum verändert. Tatsächlich spüre ich die Auswirkungen inzwischen eher in der Zusammenarbeit. Die zufälligen Begegnungen entfallen, man trifft niemanden mehr auf dem Flur, an der Kaffeemaschine oder der Tischtennisplatte. Jemandem im Raum spontan eine Frage zu stellen oder Kekse im Nachbarbüro zu stibitzen, auch das geht momentan nicht… (lacht) Ich bin nun gezwungen, mir vorher genau zu überlegen, ob und wie ich jemanden kontaktiere oder etwas frage. An anderen Stellen gestaltet sich die Zusammenarbeit eventuell etwas chaotischer, denn manche Themen gehen an mir vorbei. Oder sie brauchen länger, um den Weg zu mir zu finden. Das bedeutet: Kommunikation wird wichtiger und muss gezielter forciert werden. Der Ausbruch einer Pandemie ist für unsere gesamte Gesellschaft eine vollkommen neue Erfahrung und bringt viele neue Herausforderungen mit sich. Manche sind nicht immer unkompliziert zu handhaben. Um mich nicht von der Krisenstimmung überrollen zu lassen, musste ich schnell aus meiner eigenen Perspektive herausfinden und versuchen, so schnell wie möglich auch für andere Menschen, zum Beispiel zukünftige Kolleginnen und Kollegen, mitzudenken. Die Corona-Krise hat uns als Team und als Unternehmen sehr gefordert und sie tut es weiterhin in den unterschiedlichsten Ausprägungen.
Kommunikation wird wichtiger und muss zielgerichteter betrieben werden.
Was tust du momentan für dich persönlich, zum Beispiel, um deine Resilienz zu stärken?

Bewegung, Pausen und Ablenkung nach der Arbeit – diese Dinge sind im permanenten Homeoffice noch wichtiger für mich geworden. Schließlich ist die Arbeit nun bei mir zu Hause und verschwindet nicht durch räumliche Trennung. Ich muss sie jetzt aktiv verstauen und versuchen, sie dann durch einen Spaziergang im Wald, Yoga oder eine andere Beschäftigung vollkommen aus meinem Kopf zu bekommen. Auch dahingehend macht mir mein Arbeitgeber einige Angebote, zum Beispiel Kurse zur Meditation, Achtsamkeitsübungen, Fitness. Aber ich suche mir gerne noch zusätzliche Möglichkeiten, um mich auch in der Natur noch bewegen zu können.
Zurück zum Job: Wie viele Bewerbungen erhältst du monatlich im Durchschnitt?
Puh. Das ist ganz unterschiedlich. Manche Bewerbungen gehen direkt an die betreffenden Führungskräfte. Deren Ausschreibungen betreue ich zwar und gebe bei Bedarf Unterstützung, sie kümmern sich aber ganz eigenständig und professionell um die Sichtung und die Gespräche. Außerdem bekommen wir sehr viele Initiativbewerbungen, zu denen es nicht immer eine passende Position im Unternehmen gibt. Für die von uns zu besetzenden Stellen, die ich im Jahr 2019 betreut habe, waren es monatlich etwa 50 Bewerbungen. Dieses Jahr war bisher etwas ruhiger und es kamen für meine Betreuungsbereiche etwa 35 Bewerbungen im Monat auf die ausgeschriebenen Stellen herein.
Telefon-Interview oder Skype-Call- was ist dir lieber? Und warum?

Bei allem Digitalen und den vielen Vorteilen, die es mit sich bringt, vergesse ich nie, wie wichtig menschlicher Kontakt und die physische Anwesenheit anderer Personen in einem Raum ist. Am besten funktionieren, meiner Erfahrung nach, Skype-Video-Calls. So kann ich am ehesten das Gesamtbild meines Gegenübers einschätzen und gebe auch ihm oder ihr die Chance, mich und meine Kolleginnen und Kollegen als ganzen Menschen zu erleben, statt nur als Stimme aus dem Off.
Stell dir vor, es gäbe kein Zeitalter namens „Digitalisierung“: Wo wäre das Recruiting aus deiner Sicht?
Mein erster Gedanke: ein Haufen Aktenordner, persönliche Gespräche vor Ort, höherer Zeitaufwand, mehr Reisetätigkeit, stärkere Umweltschädigung. Mit Sicherheit hätten sich andere Formen der Bewerbung und der damit zusammenhängenden Kommunikation etabliert. Auch offene Positionen bekannt zu machen, zu streuen, mit Bewerberinnen und Bewerbern über soziale Netzwerke in Kontakt zu treten. All das würde viel mehr Zeit und Aufwand bedeuten. Wo man sich heute mit audiovisuellen Formaten oder Links zu Webseiten bewirbt, gäbe es sicherlich äquivalente Möglichkeiten, sich auf analoge Weise von Anderen abzuheben. Einen enormen Einfluss hätte das Fehlen der Digitalisierung natürlich auch auf die Art von Menschen, die wir suchen. Das hart umkämpfte Feld des IT-Recruiting gäbe es gar nicht. Vielleicht würden wir viel eher nach Erfinderinnen, Bastlern, Konstrukteurinnen und anderen kreativen Denkerinnen und Denkern suchen, die uns dabei helfen, große Wegstrecken der Kommunikation und Zusammenarbeit zu überwinden. Ich weiß es wirklich nicht, aber es macht Spaß, darüber nachzudenken.
Wieder zurück in die Gegenwart: Welche Leute sucht ihr derzeit besonders händeringend?
In der Regel sind das meist Personen, die für unser Kerngeschäft von großer Bedeutung und weltweit leider schwer zu finden sind: IT-Fachkräfte, Trainer:innen, Referenten:innen für das Produktmanagement, aber auch jegliche Kolleginnen und Kollegen, die unsere Teilnehmenden online beraten und unterstützen können. Auch bei ihnen sind digitale Kompetenzen ein absolutes Must-have.
Und was rätst du jemandem, der zurzeit auf Jobsuche ist? Welche besonderen Skills sind jetzt und in Zukunft aus deiner Sicht besonders hilfreich?
Wie eben schon erwähnt: Digitale Kompetenzen werden immer wichtiger. Aber auch Offenheit für ungewöhnliche Lösungen und ein flexibles Denkvermögen sind die Skills, auf die es mehr und mehr ankommt. Gerade jetzt zeigt sich auch noch einmal, wie wichtig Selbstorganisation, Kommunikation und Resilienz sind. Diese Kompetenzen sollte man aus meiner Sicht nicht unterschätzen – insbesondere, wenn man es noch nicht gewohnt ist, ausschließlich im Homeoffice zu arbeiten. Jemandem auf Jobsuche würde ich raten, sich vorab zu fragen: Wird der Job, in dem ich arbeiten möchte, auch in 5, 10 oder 20 Jahren noch existieren? Werde ich ihn auch in einer Ausnahmesituation wie der gegenwärtigen ausüben können? Schafft er einen Mehrwert? Wer einen Job zum wirtschaftlichen Überleben braucht, stellt sich solche Fragen vermutlich nicht. Aber in einer etwas entspannteren Situation sollte man sich darüber ruhig einmal Gedanken machen.
Selbstorganisation, Kommunikation und Resilienz - das sind aus meiner Sicht die Skills, auf die es in Zukunft noch mehr ankommen wird als heute schon.
Plaudere doch mal ein bisschen aus dem Nähkästchen: An welche Bewerbung erinnerst du dich besonders gern?
(lacht) Oh, da gibt es so einige! Am liebsten erinnere ich mich an die Bewerbungen mit lustigen Sprüchen oder ungewollt komischen Formulierungen. Ein Kandidat hat mich einmal mit „Herrin Ugarova“ angeschrieben. Das war sicher unbeabsichtigt, aber es bringt mich trotzdem noch heute zum Schmunzeln. Neben so mancher skurriler Situation bleiben mir aber besonders angenehme und anregende Gespräche mit Bewerberinnen und Bewerbern in Erinnerung, und auch positive Rückmeldungen, die ich selbst nach Absagen manchmal erhalte.
Nochmal zurück zur aktuellen Situation im Recruiting: Was wäre jetzt gerade dein dringendster Tipp?
Immer schön durchatmen, den Humor nicht verlieren, kreativ und vor allem: menschlich bleiben.
Herzlichen Dank für das interessante Gespräch, liebe Maria, und weiterhin alles Gute für dich!
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Titelfoto: WBS GRUPPE